Das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung – wer ist betroffen, worum geht es?
Das als Stechuhr-Urteil bekannte EuGH-Urteil von 2019 regelt Arbeitszeitobergrenzen und Mindestruhezeiten und verpflichtet jedes Unternehmen in den EU-Mitgliedsstaaten zur Arbeitszeiterfassung. Besteht keine individuelle, im Arbeitsvertrag festgehaltene Überstundenregelung, resultieren daraus folgende Vorgaben:
- Die vorgesehene Höchstarbeitszeit liegt bei 48 Stunden wöchentlich – sie darf einschließlich Überstunden nicht überschritten werden
- Arbeitnehmer:innen steht eine tägliche Mindestruhezeit von 11 Stunden zu
- Nach 6 Stunden muss dem Arbeitnehmenden eine Pause gewährt werden
- In einem Zeitraum von 7 Tagen ist ein voller freier Tag vorgesehen
- Jedem Arbeitnehmenden steht ein bezahlter Mindestjahresurlaub von vier Wochen zu
Unter bestimmten Umständen und in Sonderfällen gelten andere Arbeitszeitobergrenzen oder Mindestruhezeiten, die Dokumentationspflicht bleibt dabei aber bestehen.
Das Stechuhr-Urteil polarisiert schon bevor es deutsches Recht ist
Das EuGH-Urteil rief sehr schnell auch Berufsverbände und Gewerkschaften auf den Plan, die Kritik am Modell der Arbeitszeiterfassung äußern. Der Verband der Familienunternehmer etwa, der rund 180.000 Unternehmen als Mitglieder zählt, bezeichnete das Urteil in einer Pressemeldung als „Zeitreise in die Vergangenheit“.
Rollt eine Prozesswelle auf Arbeitnehmer zu?
Als 2020 das Arbeitsgericht Emden in europarechtskonformer Rechtsanwendung (also der Verwendung von geltendem EU-Recht, bevor es in nationales Recht transformiert wurde) das EuGH-Urteil einem Überstundenvergütungsprozess heranzog, befürchteten Arbeitgebendenvertreter:innen sogar eine Prozesswelle durch klagende Arbeitnehmer:innen.
Schließlich gab das Landgericht einem klagenden Arbeitnehmer recht, der Vergütung für 348 Überstunden einforderte. Diese waren entstanden, weil das Zeiterfassungssystem des Arbeitgebers, zwar Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht aber die Pausen aufzeichnete.
Das sagt das Bundesarbeitsgericht zur Arbeitszeiterfassung nach EU-Recht
Das Bundesarbeitsgericht kassierte das Urteil des Arbeitsgericht Emden mit der Begründung, der EuGH beziehe sich lediglich auf den Gesundheitsschutz von Mitarbeitenden, nicht aber deren Vergütung. Deshalb könne die Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenvergütungsprozess haben. Dieser müsste viel mehr auf Grundlage des deutschen materiellen und Prozessrechts entschieden werden.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ändert allerdings nicht daran, dass die gesamte Arbeitszeit bei Einhaltung der oben genannten Vorgaben vollständig dokumentiert werden muss. Unternehmen, die das noch nicht tun, sind von einer Nachbesserung ihrer Arbeitszeiterfassung also nicht freigesprochen. Wir haben Ihnen einen Überblick zu einigen Tools zur Arbeitszeiterfassung zusammengestellt.
Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten – diese Umstände und Sonderfällen begründen das Abweichen von den EU-Vorgaben
Tatsächlich haben Arbeitgebende die Möglichkeit, von den Vorgaben des EU-Beschlusses abzuweichen. Dafür müssen sie jedoch an anderer Stelle kompensieren. Außerdem gibt es Sonderfälle in denen Arbeitnehmer:innen besonders stark durch das EuGH-Urteil geschützt sind. Zu Beidem zwei Beispiele:
Abweichung von der 7-Tage-Regel
Arbeitnehmer:innen dürfen länger als sieben Tage am Stück arbeiten. Tun sie das, haben sie in der zweiten Woche aber das Recht auf zwei volle freie Tage.
Abweichung von 48-Stunden-Obergrenze
Auch bei der Obergrenze von maximal 48 Arbeitsstunden pro Woche dürfen vorübergehende Ausnahmen getroffen werden. Es muss aber dafür gesorgt werden, dass die Obergrenze im Durchschnitt nicht überschritten wird und ein Ausgleich innerhalb eines Zeitraums von vier Monaten stattfindet.
Sonderfall Nachtarbeit
Nachtarbeit darf in einem Zeitraum von 24 Stunden nur 8 Stunden dauern – fünf Stunden weniger als die Arbeit während des Tages. In Ausnahmen sind auch zehnstündige Schichten zugelassen, allerdings muss der Durchschnitt pro 4 Wochen bei der vorgegebenen Regelung von 8 Stunden liegen.
Sonderfall Mehrarbeit vor freiem Tag
Leisten Arbeitnehmer:innen Überstunden am Tag vor ihrem freien Tag können sie trotzdem auf ihre 11 Stunden vorgeschriebener Ruhezeit beharren. Das bedeutet im Klartext: Der freier Tag beginnt erst 11 Stunden nach Arbeitsschluss – und Arbeitnehmer:innen sind unabhängig von ihrem Dienstplan für mindestens 35 Stunden von der Arbeit befreit.
Bestimmte Berufsgruppen besitzen darüber hinaus noch Sonderregelungen, über die Sie sich u.a. auf der Seite der Europäischen Kommission informieren können.
Das Wichtigste zum Stechuhr-Urteil auf einen Blick
Wo viel passiert herrscht oft Unklarheit – wir haben die wichtigsten Fakten zu den Entwicklungen rund um das EuGH-Urteil zur verpflichtenden Arbeitszeiterfassung für Sie zusammengefasst:
- Arbeitszeitobergrenzen, Mindestruhezeiten und Dokumentationspflicht gelten in Deutschland, auch wenn das EuGH-Urteil noch nicht in deutsches Recht umgewandelt wurde.
- Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass das EuGH-Urteil nicht die Rechtsprechung für Überstundenvergütungsprozesse vorgibt.
- Unter bestimmten Umständen und in Sonderfällen gelten andere Arbeitszeitobergrenzen oder Mindestruhezeiten, die Dokumentationspflicht bleibt dabei aber bestehen.